Making of… Zuschauerpost

In dieser Woche erhielt ich von unserem Zuschauer Theodor eine persönliche Postkarte mit Janosch-Briefmarke. Ich habe mich seitdem gefragt, was für ein Mensch wohl so eine Karte schreibt. Bis ich ihn plötzlich an seinem Wohnzimmertisch sitzen sah. Meine erste Kurzgeschichte. Wichtig ist nur: Ich kenne Theodor nicht, finde die Karte amüsant und seinen Stil toll, und ich habe alles um ihn herum erfunden. Nur die Karte eben nicht.


 

Foto 2-1Janosch passte nicht. Janosch passte eigentlich nie, wenn Theodor eine Postkarte schrieb. Aber die Briefmarke mit dem kleinen Tiger und dem kleinen Bären und der Tigerente war nun einmal ein Geschenk seiner Enkelin. Und die mochte Theodor sehr.

Wenn er es sich an diesem Dienstagmittag genau überlegte, mochte er seine Enkelin viel mehr als die Briefmarke. Gleich drei verschiedene Briefmotive hatte Janosch in der Marke verwendet, dazu noch einen Vogel, ein Segelboot und ein Meer. Völlig überladen. Aber Theodor fehlte Janoschs Adresse, um ihn darauf hinzuweisen.

Dieser Blick, den nur Leute mit listigem Plan haben.

Dabei war heute ein guter Tag für Hinweise. Schon am Morgen konnte Theodor die Welt ein „wenig bessern“, wie er gern sagte. Zum Beispiel als die mittelalte, etwas rundliche Frau sich an der einzigen Kasse so schräg von der Seite anstellte. Theodor hatte ihren Plan schon in ihren Augen gesehen. Dieser gestellt harmlose Blick, den nur Leute mit einem listigen Plan haben. Er wusste, dass sie sich nun Schritt für Schritt, Kunde für Kunde vor ihm in die Schlange drückte. Nicht nur vor ihm. Vier Kunden hätte sie damit überholt. Theodor konnte das verhindern – mit nur einem Hinweis. Die vier Kunden, denen er die Wartezeit ersparte, dankten ihm nicht. Aber das verlangte Theodor auch nicht. Die Welt hatte sich ein „wenig gebessert“, ob sie nun dankt oder nicht.

Gedankt haben Theodor auch seine Nachbarn nicht den Einsatz an der Treppe. Ganz unten. Der Student aus der ersten Etage kettete sein Rad am Treppengeländer fest. Nicht so, dass es im Weg stand, aber schon so, dass Theodor einen kleinen Bogen machen musste. Und seine Nachbarn sicher auch. Es war der einzige Fehler an diesem jungen Mann, der Theodor auffiel. Bisher. Deswegen reichte auch hier ein einziger Hinweis. Mit dem Hinweis, sein Rad doch einfach draußen an die Laterne zu ketten, war es in diesem Fall getan. Der Student entschuldigte sich, er dankte nicht, auch kein Nachbar dankte. Aber die Welt war ein „wenig besser“.

Und plötzlich sprach nur noch der Bart.

Die Mittagsnachrichten im Fernsehen waren für Theodor immer ein Ritual gewesen. Was die Zeitungen schrieben, war bereits gestern passiert. Und das Radio konnte ihm die Ereignisse des Morgens nur beschreiben und nicht zeigen. Sie hatten einen neuen Moderator, das hatte Theodor damals sofort bemerkt. Er war jung und blond und trug einen Bart. Einen Bart trug der damals blonde Theodor auch. Das war 1975, einen ganzen warmen Sommer lang. Es war ein schöner Sommer, es war auch ein schöner Bart, aber es waren die Siebziger. Und die Siebziger waren jetzt vierzig Jahre her. Das wusste Theodor. Ein leichtes Ziehen im Rücken bei ungewohnten Bewegungen bewies es ihm jeden Tag, und auch sein Magen vertrug scharfes Essen nicht mehr so wie damals. Aus blond war weißgrau geworden. Die Siebziger waren vorbei. Der Bart, das war für Theodor wie ein hämischer Brief aus einem früheren Leben. Von ihm an sich selbst. Er fühlte sich gut, aber mittags sah sich Theodor seiner Vergangenheit ausgeliefert. Er wollte Nachrichten sehen und keine hämischen Briefe bekommen. Aber konzentrieren konnte sich Theodor da schon lang nicht mehr. Sommer, Nachrichten, 1975, 2014… Mittlerweile schien auf dem Schirm des Röhrenfernsehers nur noch der Bart zu sprechen. Eine sprechende Hecke. Theodor wurde unruhig. Alles andere verschwamm, überall Haare… Den Stift in seiner Hand bemerkte Theodor erst, als er auf der Postkarte aufsetzte. Einige hatte er für solche Fälle vorfrankiert.

Das Wort war klasse, ließ die Haare noch ungezähmter wirken.

„Werter Herr Häusler“, schrieb Theodor, erst mit Druck, dann gewann er seine Leichtigkeit zurück. „Ich möchte Sie davor bewahren, dass Sie bald Ihren Job verlieren“, schrieb er weiter und musste kichern. Eigentlich war ihm der erste Satz zu ulkig geraten, aber die Karte war nun einmal vorfrankiert und damit 45 Cent mehr wert als das reine Papier. „Wenn Sie Ihren Bart weiter so wuchern…“ – bei diesem Wort schmunzelte Theodor erneut, das Wort war klasse, ließ die Haare noch ungezähmter wirken – „…wuchern lassen, werden Sie in Kürze keine Nachrichten mehr sprechen können.“ Theodor hatte bewusst offen gelassen, ob sich der Bart zum reinen Hindernis oder zum Kündigungsgrund entwickeln würde. Er war stolz auf diesen Kniff. Mal wirkte der Satz bedrohlich, mal heiter – je nach Tagesverfassung des Lesers. „Für diesen selbstlosen Rat erwarte ich keine Dankbarkeit.“ Dankbarkeit erwartete er nie und schützte sich so vor Enttäuschungen. Ein bisschen hoffte er, durch diesen Hinweis auch die Dankbarkeit erst anzuregen. Die reine Rasur des Moderators werde ihm aber genügen, nahm er sich vor. Die Welt hätte sich schon ein „wenig gebessert“.

Theodor schaute noch einmal auf die Karte. Sie war ihm gut gelungen, die Schrift milde und doch an ihren Wendepunkten ausdrucksstark. Ein bisschen wie er selbst. Eine schöne Karte, seine Enkelin hätte ihm das bestätigt. Nur Janosch passte nicht. Aber Janosch passte eigentlich nie, wenn Theodor eine Postkarte schrieb.

Janosch - "völlig überladen"